Prolog 1 - Mai 1990
Angela
Ricardi
war
völlig
verzweifelt.
Ihren
Blick
auf
den
Boden
geheftet,
nicht
starr,
sondern
unstet
flackernd,
verließ
sie
das
beschauliche
Waldhilsbach
langsam
und
stolpernd,
die
Schultern
hochgezogen
und
den
Rücken
gebeugt,
das
Gesicht
von
ihrem
langen
schwarzen,
leicht
gelockten
Haar
fast
vollständig
verdeckt.
Immer
wieder
sah
sie
sich
scheu
nach
den
Seiten um, als ob sie Angst hätte, verfolgt zu werden.
...
Sie
war
jetzt
28
Jahre
alt
und
ihre
Karriereaussichten
waren
blendend.
Was
wollte sie mehr?
Doch
zwei
Wochen
nach
dem
Examen
brach
in
Davos
die
Katastrophe
über
sie
herein,
eine
totale
Demütigung
und
ein
fürchterlicher
Vertrauensbruch.
Aber
das
wäre
noch
verkraftbar
gewesen,
hätte
nicht
die
Nachricht
ihres
Arztes
vor
fünf
Tagen
den
zweiten
Schock
gebracht.
Davos
würde
Folgen
haben,
die
sie
ihr
ganzes
Leben
nicht
loswerden
könnte,
es
sei
denn
…,
es
sei denn, sie entschied sich für das, was ihre Religion ihr verbot.
...
Lange
blieb
sie
noch
sitzen,
ehe
sie
sich
endlich
erhob
und
den
Dom
über
das
südliche
Seitenschiff
verließ.
Die
Mittagssonne
schien
ihr
direkt
ins
Gesicht.
Blinzelnd
wandte
sie
sich
nach
rechts
zu
der
in
Stein
gehauenen
Ölbergszene.
...
Angela
Ricardi
hatte
schon
oft
in
der
Vergangenheit
viel
Zeit
damit
zugebracht,
die
verschiedenen
Gesichter
der
Szene
zu
studieren,
und
es
störte
sie
nicht,
dass
die
meisten
gotischen
Originale
zerfallen
waren
und
im
19.
Jahrhundert
durch
neue
ersetzt
werden mussten.
Auch
jetzt
verweilte
sie
wieder
lange
vor
den
Skulpturen,
und
besonders
beschäftigte
sie
sich
mit
dem
Engel,
der
ganz oben auf dem Ölberg stand.
...
Aber
was
ist
das,
fragte
sie
sich,
was
ist
mit
dem
Gesicht
des
Engels?
Die
Augen
sind
an
den
Seiten
nach
unten
gezogen,
sie
sind
todtraurig,
nein,
noch
mehr,
auch
die
Mundwinkel
sind
nach
unten
gezogen.
Der
Engel
weint!
Aber
– warum weint der Engel?
...
Angela
Ricardi
war
verwirrt.
Lange
blieb
ihr
Blick
auf
dem
Engelsgesicht
haften,
bis
sie
allmählich
das
Gefühl
hatte,
dort wie in einem Spiegel das eigene Gesicht zu sehen. Diese traurigen Augen, dachte sie, das sind meine Augen …
Prolog 2 - Aleppo, 29.September 2012
...
Er
warf
einen
letzten
Blick
auf
den
Vater
und
den
Stand,
der
auch
einmal
seine
Existenz
hätte
sein
sollen.
Dann
stürzte
er
sich
in
den
Strom
der
panisch
Fliehenden.
Es
war
die
Hölle.
Der
Gang
war
zu
schmal,
um
alle
Fliehenden
aufnehmen
zu
können.
Manche
wurden
zur
Seite
in
die
Stände
hineingedrückt.
Andere
hatten
versucht,
mindestens
einen
Teil
ihrer
Habseligkeiten
zu
retten,
und
merkten
erst
jetzt,
wie
hinderlich
das
war.
Sie
ließen
fallen,
was
sie
trugen,
und
die
Nachfolgenden
stolperten
über
Teppiche,
Kleidungsstücke,
zersplittertes
Porzellan,
kamen
zu
Fall,
wurden
überrannt
und
hatten
keine
Chance
mehr,
wieder
auf
die
Beine
zu
kommen.
Kinder
schrien
verzweifelt
nach
ihren
Müttern,
die
sie
im
Chaos
verloren
hatten.
Aber
niemand
hörte
sie.
Viele
wurden
umgerannt
und
zertreten.
Da
sah
er
vor
sich
einen
alten
Mann,
der
versuchte,
in
einem
kleinen
Leiterwagen
einige
Flaschen
erlesener
Öle,
die
alles
waren,
was
er
besaß,
vor
den
Flammen
zu
retten.
Dadurch
staute
sich
der
Strom
der
Fliehenden.
Wütend
stieß
ein
junger
Mann
den
Wagen
mit
einem
heftigen
Fußtritt
zur
Seite.
Er
fiel
um
und
die
Flaschen
zerschlugen.
Radi
al-
Sibai
konnte
noch
das
Entsetzen
im
Gesicht
des
Greises
sehen.
Dann
wurde
er
im
Strom
weitergerissen,
strauchelte
mehrmals,
konnte
sich
aber
auf
den
Beinen
halten.
Endlich
war
das
Antiochia-Tor
erreicht
und
er
war
dem
Inferno
entkommen.
Der
Strom
der
Fliehenden
ergoss
sich
durch
das
Tor
ins
Freie.
Plötzlich
fielen
Schüsse.
Niemand
wusste,
woher
sie
kamen.
Menschen
brachen
blutüberströmt
zusammen.
In
äußerster
Panik
stob
die
Menge
auseinander
und
die
Fliehenden
versuchten,
in
kleinen
Gassen
Schutz
zu
finden.
Auch
Radi
al-Sibai
rannte
um
sein
Leben.
Da
spürte
er
einen
glühenden,
stechenden
Schmerz
in
der
rechten
Schulter,
sah
Blut
aus
seinem
Körper
quellen,
taumelte,
versuchte, sich auf den Beinen zu halten, wurde von anderen gestoßen, und dann wurde es Nacht um ihn. ...
Prolog 3 - Dezember 2012
.
..
Er
erhob
sich,
trat
mit
zitternden
Knien
an
die
Theke
und
bezahlte
seine
Rechnung.
Langsam
verließ
er
das
Lokal.
Draußen
schlug
ihm
die
kalte
Dezemberluft
entgegen.
Es
hatte
angefangen
zu
schneien.
Unschlüssig
stand
er
vor
dem
Lokal.
Er
wusste
nicht,
wo
er
jetzt
hingehen
sollte.
Nach
Hause
wollte
er
auf
keinen
Fall.
Aber
eines
wusste
er
ganz sicher: Es würde in Zukunft nichts mehr so sein wie bisher.
Freitag, 31. Mai - 2
...
Jemand
hatte
ihr
mit
einer
Schrotflinte
in
den
Kopf
geschossen.
Ein
zweiter
Schuss
hatte
ihre
Brust
zerfetzt.
Und
zu
allem
Überfluss
waren
ihr
dann
auch
noch
die
Hände
abgehackt
worden.
Die
Zeit
stand
still.
Unendlich
lange
verharrte
er
regungslos,
ohne
wirklich
zu
begreifen,
was
geschehen
war.
Dann
sank
er
auf
die
Knie,
fiel
über
den
noch warmen Leichnam und drückte ihn bitterlich schluchzend an sich.
Völlig
bewegungslos
blieb
er
so
liegen,
bis
ihn
nach
fast
einer
Stunde
zufällig
vorbeikommende
Wanderer
entdeckten
und
sofort
die
Polizei
alarmierten.
Zwanzig
Minuten
später
fand
ihn
Oberkommissarin
Martina
Lange
von
der
Mordkommission
Heidelberg.
Sie
wohnte
in
Ziegelhausen
und
war
schon
zu
Hause,
als
sie
die
Nachricht
von
der
Toten
im
Bärenbachtal
erreichte.
Deshalb
war
sie
als
Erste
am
Tatort.
Als
sie
die
grausam
verstümmelte
Leiche,
eng
umschlungen
von
einem
Mann,
sah,
wusste
sie
sofort,
dass
das
eines
der
Bilder
war,
die
sie
für
immer
im
Gedächtnis behalten würde.
3
...
Die
beiden
Syrer
gingen
mit
Mario
in
sein
Arbeitszimmer.
Thomas
Dehler
blieb
im
Empfangsraum
zurück.
Er
spürte
seine
innere
Unruhe.
Sie
näherten
sich
dem
Point-of-No-Return.
Er
fragte
sich
immer
wieder,
ob
dieses
Projekt
nicht
doch
eine
Nummer
zu
groß
für
sie
war.
Auch
wenn
es
technisch
gelang,
konnte
es
doch
leicht
tödlich
enden.
Vor
dem
Haus
stand
auf
der
gegenüberliegenden
Straßenseite
ein
grauer
Opel
Corsa.
Drinnen
saß
tief
geduckt
ein
Mann
mit
schwarzem
Haar
und
schwarzer
Sonnenbrille.
Frustriert
packte
er
sein
Richtmikrofon
ein.
Obwohl
es
das
Beste
war,
das
es
weltweit
auf
dem
Markt
gab,
hatte
es
die
Gespräche
nur
völlig
verzerrt
und
daher
unverständlich
aufgenommen.
Dafür
hatte
er
überhaupt
keine
Erklärung.
Er
konnte
nicht
wissen,
dass
Mario
gerade
eine
neue
Technik
ausprobierte,
mit
der
man
Räume
völlig
abhörsicher
machen
konnte.
Und
Mario
selbst
ahnte
nicht,
dass
diese Technik gerade ihre Feuertaufe bestanden hatte.
4
... „Kannst du es auf eine kurze Formel bringen, was dich an dieser Stadt so beeindruckt?“
Der
Senior
[Travniczek]
überlegte
eine
Weile.
„Ich
denke
schon.
Es
sind
wohl
zwei
Dinge:
Da
ist
natürlich
diese
einmalige
Lage
in
dem
sich
allmählich
öffnenden
Neckartal
aus
dem
Odenwald
in
die
Rheinebene
hinaus.
Dazu
ein
Klima
–
wir
sind
hier
in
einer
der
wärmsten
Gegenden
Deutschlands
–
das
der
Stadt
ein
geradezu
mediterranes
Flair
verleiht.
Es
ist
kein
Wunder,
dass
sie
durch
die
Jahrhunderte
hindurch
von
Dichtern
als
eine
der
schönsten
deutschen Städte besungen wurde.
Aber
nach
dem
Zweiten
Weltkrieg
kam
noch
etwas
ganz
Wesentliches
hinzu.
Die
deutschen
Großstädte
wurden
ja
nahezu
alle
zerstört.
Beim
Wiederaufbau
ist
es
in
vielen
Fällen
nicht
gelungen,
die
Seelen
der
Städte
wieder
zu
beleben,
wenn
ich
es
etwas
pathetisch
ausdrücken
darf.
Aber
für
Heidelberg
gilt
das
genaue
Gegenteil.
Hier
ist
fast
keine
Bombe
gefallen.
Die
Stadt
hat
zwar
auch
ihre
große
Zerstörung
erlebt.
Aber
das
war
1689,
also
vor
weit
mehr
als
dreihundert
Jahren.
Seitdem
konnte
sie
kontinuierlich
wachsen.
Und
man
fühlt
sich
hier
schnell
als
Teil
dieses
großen Wachstumsprozesses … und wird von ihm auch ein Stück weit getragen.
Ich
kann
das
auch
noch
auf
eine
ganz
kurze
Formel
bringen:
In
Heidelberg
kannst
du
sehen,
was
aus
unsrem
Land hätte werden können, wenn man Hitler nie hätte an die Macht kommen lassen.“
8
...
„Was
ist
denn
geschehen?
Doch
nichts
wirklich
Schlimmes?“,fragte
Frau
Ricardi
mit
tränenerfülltem
Blick.
Plötzlich
merkte
Brombach,
wie
sich
in
seinem
Inneren
das
Bild
dieser
beiden
alten
lieben
Leute
mit
dem
der
verstümmelten
Leiche
ihrer
Tochter
überlagerte.
Er
blickte
hilfesuchend
zu
seiner
Kollegin,
die
aber
starr
vor
sich
auf
den
Tisch
stierte
und
seine
Not
nicht
wahrnahm
oder
wahrnehmen
wollte.
Er
musste
seine
ganze
Konzentration
zusammennehmen,
um
den
aufsteigenden
Würgereiz
zu
unterdrücken,
und
sprach
dann
mit
einer
Stimme,
die
so
fatalistisch klang, dass Martina Lange zutiefst erschrak. So hatte sie ihn noch nie gehört:
„Schlimm? Mehr als das. Sie müssen jetzt versuchen, sehr stark zu sein. Ihre Tochter ist – tot.“
Die
beiden
alten
Leute
brauchten
eine
Weile,
um
zu
realisieren,
was
Brombach
gerade
gesagt
hatte.
Scipio
Ricardi
fasste sich zuerst und fragte: „Was ist passiert? Ein Unfall?“
Nun
griff
Martina
Lange
ein,
die
gemerkt
hatte,
wie
überfordert
Brombach
war.
„Leider
nein.
Es
ist
noch
schlimmer.
Jemand hat sie getötet.“
Jetzt
stand
Frau
Ricardi
langsam
auf.
Sie
zitterte
am
ganzen
Körper.
Sie
wandte
sich
zum
Küchenschrank,
stützte
ihre
Hände
auf
die
Anrichte
und
schrie
plötzlich
ganz
laut:
„Nein
–
nein
–
das
kann
nicht
sein!
–Warum
Angela?
–
Warum? – Sie war doch ein Engel – unser Engel – unser Engelchen!“
Ihre
Sprache
wurde
unverständlich
und
ging
über
in
lautes
Schluchzen.
Ihr
Mann
erhob
sich,
selbst
kreidebleich
im
Gesicht, trat langsam neben seine Frau und legte ihr sachte den Arm um die Schulter.
Da stand plötzlich Angelina in der Küchentür und rief: „Oma, warum schreist du so, was ist los? Ist Mama tot?“
Samstag, 1. Juni - 13
...
Erst
wollte
er
sofort
im
Haus
nachsehen.
Aber
es
siegte
die
Vernunft.
Er
hätte
Verstärkung
gebraucht,
denn
er
konnte
nicht
wissen,
was
ihn
dort
erwartete.
Also
huschte
er
zu
seinem
Dienstwagen
zurück,
griff
nach
seiner
Kamera
und
fotografierte
erst
einmal
das
Motorrad
und
die
offene
Tür.
Dann
wollte
er
in
der
Direktion
anrufen,
um
Verstärkung
anzufordern,
aber
es
war
zu
spät.
Die
Tür
öffnete
sich
weit
und
ein
Mann
in
schwarzer
Motorradkleidung
und
Sturzhelm
trat
vorsichtig
heraus,
sah
sich
um
und
sprintete
zu
seinem
Motorrad.
Brombach
fotografierte
ihn,
obwohl
er
wusste,
dass
er
wegen
des
Helms
nicht
zu
erkennen
war.
Sekunden
nach
dem
Motorrad
startete
er
seinen
Wagen und nahm die Verfolgung auf.
Der
Flüchtende
wollte
offensichtlich
zur
Peterstaler
Straße
hinunter.
Brombach
vermisste
jetzt
schmerzlich
seinen
Porsche,
denn
er
merkte
schnell,
dass
sein
Dienstmercedes
auf
den
kurvigen,
teilweise
sehr
steilen
und
heute
auch
noch
regennassen
Straßen
dem
Motorrad
hoffnungslos
unterlegen
war.
Das
dachte
er
aber
durch
seine
Fahrkünste
ausgleichen
zu
können.
Und
tatsächlich
hielt
er
noch
bei
der
halsbrecherischen
Fahrt
über
den
Bächenbuckel
und
die
Hirtenaue
mit.
Aber
dann
nahm
das
Motorrad
in
riskanter,
aber
gekonnter
Manier
die
Spitzkehre
in
die
Peterstaler
Straße
hinauf.
Brombach
versuchte,
im
gleichen
Tempo
zu
folgen.
Was
bei
seinem
Porsche
eventuell
noch
geklappt
hätte,
war
für
den
Mercedes
zu
schnell.
Es
kam
zum
Desaster.
Der
Wagen
brach
nach
links
aus,
rutschte
über
den
Fußweg
und
krachte
mit
voller
Wucht
seitlich
gegen
eine
Hauswand.
Die
Airbags
lösten
präzise
aus,
und
so
blieb
Brombach nahezu unverletzt.
14
...
„Opa,
eines
verstehe
ich
nicht.
Wenn
Mama
jetzt
ein
Engel
ist,
warum
kommt
sie
dann
nicht
einfach
zu
uns
und
sagt: Seht her, hier bin ich, eure Mama, der Engel?“
„Kind,
du
stellst
vielleicht
Fragen!“,
entgegnete
Opa
Ricardi,
der
sehnlichst
hoffte,
Oma
würde
bald
zum
Mittagessen
rufen.
Er
musste
lange
überlegen,
ehe
er
antworten
konnte:
„Angelina,
denk
mal
an
Weihnachten
oder
an
deinen
Geburtstag.
Da
wünschst
du
dir
etwas
und
musst
dann
manchmal
lange
warten,
bis
Weihnachten
oder
der
Geburtstag tatsächlich da sind. So ähnlich muss das mit den Engeln sein.“
Diesen
Vergleich
verstand
das
Kind
sofort
ganz
intuitiv.
Sie
ließ
ihr
Werkstück
und
das
Schnitzmesser
sinken
und
sah Opa lange ins Gesicht. Dann sagte sie ganz leise: „Dann ist der Tod so etwas wie Weihnachten.“
© Christoph Wagner 2013
Zuletzt aktualisiert:11. September 2016